Ausstellungsgrafik »Einfach. Natürlich. Leben. – Lebensreform in Brandenburg 1890–1939«

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland vor dem Hintergrund der rasanten Industrialisierung und Urbanisierung lebens­reformerische Ideen, die den Folgen der technisierten, als entfremdet und naturfern empfundenen Lebenswelt der Moderne skeptisch gegenüber standen. Auf der Suche nach alternativen Lebens­entwürfen sollten alle Aspekte des Alltags – Wohnen, Arbeiten, Essen, Kleiden, Heilen, Bewegen, Erziehen, Wirtschaften und Zusammenleben – im Sinne von Natürlichkeit, Gesundheit, Schönheit und Einfachheit neu ausgerichtet werden.

Die Dichte und Vielfalt der Lebensreformbewegung in Brandenburg war geprägt von der Metropole Berlin. Mit dem Ruf »Hinaus aus der Stadt« ­entstanden im Umland Landkommunen, Nacktkolonien, Reformschulen, Kunsthandwerkergenossenschaften, Künstlergemeinschaften, ­Gartenstädte und ökologisch wirtschaftende Höfe. Die Ideologien ihrer Protagonisten reichten von völkisch bis anarcho-sozialistisch, ihre Lebensweisen von komplexen Gemeinwesen bis zu eremi­tischen Wander­predigern.

Die Ausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Potadam, stellt die Lebensre­formbewegung in Brandenburg mit ihren zentralen Strömungen Naturheilkunde, Vegetarismus, Nacktkultur und Siedlungsbewegung  vor. Sie erzählt in 15 Stationen von Orten und Menschen, die alternativen Lebensweisen auf unterschiedlichste Weise Raum gaben.

Die Stationen der Ausstellung:

  1. Die Obstbaubaukolonie Eden bei Oranienburg verband Genossenschaftssiedlung, ökologischen Landbau, Vegetarismus, Reform­pädagogik, Brotreform sowie Freiland- und Freigeldwirtschaft. Sie ist die einzige noch bestehende lebensreformerische Siedlungsgenossenschaft in Deutschland.
  2. Die Nacktkultur-Vereine am Motzener See waren Orte naturheilkundlich inspirierter FKK-Aktivitäten, der Arbeiterbildung, Sexualaufklärung, Ernährung, Gymnastik und der neuen Körperästhetik in der Freiland-Aktfotografie.
  3. Der Künstler Fidus war mit seiner emphatischen Bildsprache und Ästhetik der Illustrator und Gebrauchsgrafiker der Lebensreform.
  4. Die Kunsthandwerker-Genossenschaft Gildenhall bei Neuruppin verband beispielhaft für die Lebensreformbewegung Wohnen, Arbeiten, Genossenschafts- und Gartenstadtbewegung.
  5. Der Friedrichshagener Dichterkreis war Anziehungspunkt für die literarische Moderne, und Adolf Brands Zeitschrift »Der Eigene« gilt heute als das erste Schwulenmagazin der Welt.
  6. Der Reformgarten von Karl Foerster in Potsdam-Bornim steht für die Gartenkunst im Sinne lebensreformerischer Naturnähe.
  7. Im »Garten der Schönheit« an seiner Villa in Werder machte Karl Vanselow, ein schillernder Akteur der frühen Nacktkultur- und Sexualreformbewegung, Aktaufnahmen für seine Zeitschrift »Die Schönheit«.
  8. In der Siedlung Heimland bei Rheinsberg sollten Ideen der Lebens­reform mit Ideen der völkischen Bewegung verbunden werden.
  9. Die Entstehung der Marke Demeter ist verbunden mit Bad Saarow und dem ­Demeter-Hof ­Marienhöhe, einst ein Versuchsgut im Sinne der Anthroposophie Rudolf Steiners und heute der älteste biologisch-dynamisch wirtschaftende (Demeter) Hof in Deutschland.
  10. Die anarchischen Bohème-Siedlungen im Roten Luch/Grünhorst waren zeitweise Wohnorte von Wanderpredigern wie Gusto ­Gräser, Mitbegründer der Kolonie Monte Verità in Ascona, oder Max Schulze-­Sölde, Christ-Revolutionär und Maler.
  11. Der Chirurg August Bier praktizierte erfolgreich mit naturheilkund­lichen Methoden und machte sich auch als Waldreformer auf seinem Gut in Sauen einen Namen.
  12. Reinhold Gerling in Oranienburg steht mit seiner Zeitschrift »Der Naturarzt« und seinen Leitfäden zur lebensreformerischen Körperpflege und -ertüchtigung für die boomende zeitgenössische Ratgeberliteratur.
  13. Gustav Nagel provozierte die Bürgerlichkeit als Wanderprophet und mit seinem Leben im selbst geschaffenen Paradiesgarten in Arendsee.
  14. Die Wandervogelbewegung nahm ihren Ausgang in Berlin und Brandenburg und avancierte in der Weimarer Republik zur größten Jugendbewegung.
  15. Als Volksschullehrer in Tiefensee entwickelte Adolf Reichwein, 1933 aus politischen Gründen als Akademie-Professor entlassen, ein reformpädagogisches Unterrichtsmodell und führte den Film als Unterrichtsmittel ein.

Mit Fotografien, Gemälden, Graphiken, Büchern und Zeitschriften, Gebrauchsgegenständen, Kunsthandwerk und Filmen illustriert die Ausstellung das vielfältige weltanschauliche, ästhetische und ­alltagspraktische Repertoire der Lebensreformbewegung in Brandenburg.

Infos zur Ausstellung

»Einfach. Natürlich. Leben. – Lebensreform in Brandenburg 1890–1939«
Haus der Brandenburisch-Preußischen Geschichte, Potsdam (HBPG)
10.7.2015–22.11.2015, Kutschstall, Am Neuen Markt 9, Potsdam

Kuratorin: Dr. Christiane Barz
Ausstellungsarchitektur: torhaus architekten + gestalter, Enrico Oliver Nowka, Claudia Wiesner
Ausstellungsgrafik sowie Werbegrafik: Ulrich Lange, Helmut Stabe, VIERZIG A, Dessau
Ausstellungsbau: Bernd Prelop, Bad Muskau
Objekteinrichtung: Zehnpfennig und Weber GbR, Berlin; Carsten Musolf, Benjamin Genz
Beleuchtung: Carsten Musolf